Siegerprojekt Richard-Beglinger-Preis 2023

Dank zum Gewinn des Hauptpreises (Lernhaus «tipiti», Wil SG) von Stephan Herzer

Der Schulleiter Stephan Herzer bedankt sich in seiner Rede für die Vergabe des Richard-Beglinger-Hauptpreises 2023 an das Lernhaus «tipiti» und die für das Projekt verantwortlichen Lehrpersonen.

Liebe Ruth Sprecher, Präsidentin der Fachkommission Berufliche Orientierung des LCH, geschätzte Jury des Richard-Beglinger-Preises 2023, sehr geehrte weitere Anwesenden

Wir, das sind Frau Diethelm, Frau Kappich und ich, Stephan Herzer, freuen uns riesig, dass wir heute hier in der Bundeshauptstadt an der Swissdidac stehen dürfen wo sich alles, was in der Bildung Rang und Namen hat ein Stelldichein gibt – und wo wir stellvertretend für unser kleines Lernhaus in Wil SG den Beglinger Preis in Empfang nehmen dürfen. Wil ist weit, weit im Osten, also noch weiter als Winterthur, wo für die meisten die Schweiz bekanntlich aufhört. Das ist eine sehr, sehr grosse Ehre für uns!

Ruth weiss noch, wie verwirrt ich zunächst reagierte, als sie mich angerufen und informiert hat, dass wir in die Kränze gekommen sind. Ich habe zunächst gar nicht kapiert, worum es überhaupt geht. Es war einfach unglaublich und auch wenn wir mittlerweile etwas Zeit hatten, diese Nachricht zu verdauen, sind wir auch jetzt noch ziemlich von den Socken.

Ich soll also etwas zu uns sagen, zu unserer Arbeit im Allgemeinen und unserem Projekt im Speziellen. Das mache ich sehr gerne und fasse mich so kurz wie möglich.

Unsere kleine Delegation vertritt das tipiti Lernhaus Wil, das als kantonale Sonderschule für Lernen & Verhalten für den Zyklus 3 anno 2006 gegründet worden ist. Wer uns kennt, der weiss, dass wir uns stets für eine Inklusive Schule stark gemacht haben. Eine Sonderschule als Stimme für inklusive Bildung? Das scheint auf den ersten Blick vielleicht wie ein Widerspruch. Ist es aber nicht. Wir sind Realisten genug, um zu sehen, dass das System Regelschule vielerorts noch nicht die Haltekraft entwickeln konnte, die es braucht, um Sonderschulen überflüssig zu machen. Noch gibt es Kinder und Jugendliche, die in ihren Bedürfnissen nicht ausreichend unterstützt werden können und die man glaubt, separieren zu müssen. Da kommen wir ins Spiel. Wir sind der Überzeugung, dass Inklusion über die Grenzen von Schule hinaus, als gesamtgesellschaftliches Anliegen gedacht werden muss. Und wir treten an, Inklusion über die Berufsausbildung möglich zu machen.

Am Lernhaus stellen wir darum den Berufseinstieg ins Zentrum unseres Auftrags. Unsere Lernenden gehen früh und intensiv auf Tuchfühlung mit der Arbeitswelt, wir pflegen ein stetig wachsendes Netzwerk an Lehrbetrieben und stehen mit Fachleuten aus dem Feld der Berufsberatung, der IV, den weiterführenden Schulen, sozialen Diensten, etc. in dauerndem Kontakt. Und vor allem setzen wir auf starke Beziehungen zu unseren Lernenden, die über die Schulzeit hinaus gehen.

Diesen tollen Preis haben wir für unser Projekt der Nachschulischen Betreuung gewonnen. Den Jugendlichen – allen Jugendlichen notabene – stehen auf dem Weg in ein selbstbe-stimmtes Erwachsenenleben zwei grosse Hürden im Weg stehen. Das sind die beiden Übergänge von der Volksschule in die Berufsausbildung – und nach deren Beendigung der zweite Übergang ins tatsächliche Berufsleben. Beide Übergänge sind oft mit dem Verlust von vertrauensvollen Lernbeziehungen verbunden. Im Fall von Schülerinnen und Schülern mit besonderen Bedürfnissen meistens auch mit dem Wegfall der bisherigen sonderpädagogischen Unterstützung. Diese Hürde helfen wir zu meistern, indem unsere Ehemaligen auch nach Abschluss der Volksschule weiterhin zum Lernhaus gehören und wir unseren Auftrag erst mit der vollen Integration unserer Lernenden ins Erwerbsleben als erledigt betrachten.

Wir bieten zunächst die Sozialpädagogische Nachbetreuung an. Frau Diethelm hält weiterhin den Kontakt zu unseren Ehemaligen und deren Lehrbetrieben. Sie werden visitiert, es wird nachgefragt, mal braucht es eine Mediation zwischen Lehrling und Lehrbetrieb, mal gilt es einen Lehrabbruch über die Bühne zu bringen und eine neue Lehrstelle zu finden. Mal muss eine Fachstelle für Suchtfragen oder Schuldenberatung mit ins Boot geholt werden, mal geht es um eine Mutterschaft während der Lehrzeit, es braucht Hilfe im Umgang mit Behörden, Vermittlung in der Familie, der Jobbeschrieb von Frau Diethelm ist lang. Zum zweiten steht das Angebot der Schulischen Nachbetreuung allen unseren Ehemaligen zur Verfügung. An zwei Abenden pro Woche – in dringenden Fällen auch mal ausserplanmässig – stehe ich als SHP für Fragen des Lernens, bei der Bewältigung von Hausaufgaben, für Prüfungsvorbereitungen oder Unterstützung bei schriftlichen Arbeiten zur Verfügung. Mitunter setze ich mich auch in Fragen des Nachteilsausgleichs mit den Berufsschullehrpersonen auseinander oder helfe beim Formulieren von Briefen an Ämter und Behörden.

Diese zweigleisige Nachbetreuung stellt ein kompensatorisches Angebot zum Erhalt der Chancengerechtigkeit dar. Auch Lernende mit schwierigen Voraussetzungen können ihr Potential entfalten, wenn sie auf ein tragfähiges Beziehungsnetz zurückgreifen können. Wir sind der Überzeugung, dass wir mit unserem Angebot nicht nur die individuellen Lebensläufe unserer Lernenden unterstützen, oder uns schöngeistig für das Ideal der «Chancengerechtigkeit» einsetzen, sondern auch der Wirtschaft und der Gesellschaft als Ganzes einen Dienst erweisen.

Jeder junge Erwachsene nämlich, der den Einstieg ins Erwerbsleben nicht schafft, oder der nicht sein volles Potential entfalten kann, bedeutet letztlich «Verlust an Wertschöpfung», wie es in der Ökonomie genannt wird. Die Beträge, die der Volkswirtschaft so entgehen, sind exorbitant.

Heute blicken wir auf gut 16 Jahre Laufzeit unseres Projektes zurück. Knapp 100 Schülerinnen haben bislang unsere Schule und die Berufsausbildung durchlaufen. Gut 2/3 haben einen Eidgenössischen Berufsabschluss erlangt. Ein Teil unserer Ehemaligen steht derzeit noch in der Lehre. So kommen wir auf ca. 85% unserer Absolventinnen und Absolventen, die erfolgreich in das Erwerbsleben eingetreten sind oder auf dem Weg dahin sind. Gute Rechnerinnen und Rechner stellen fest, dass es einen Rest gibt, Ehemalige, die keinen regulären Berufsabschluss erworben haben. Das ist vielleicht bedauerlich, aber das Leben ist manchmal auch irregulär. Manche haben ihre Nische gefunden, andere suchen sie noch. Ausserdem kann es gut sein, dass unsere Ehemaligen auch erst nach einer gewissen Zeit wieder ans Lernhaus zurückkommen. Wenn sie unsere Unterstützung möchten, wird ihnen die Türe offenstehen.

Wir sind heute zu dritt gekommen. Neben Frau Diethelm und mir ist auch Frau Kappich anwesend. Sie steht derzeit intensiv im Programm der Schulischen Nachbetreuung und bereitet sich auf ihren Lehrabschluss als tiermedizinische Praxisassistentin im kommenden Sommer vor. Gegenwärtig hat sie grad eine sehr aufwändige Vertiefungsarbeit abgeliefert.

Stephan Herzer, Helena Kappich und Damaris Diethelm freuen sich über den Hauptpreis 2023.

Da stehen wir nun und freuen uns riesig über die grosse Wertschätzung, die uns da zuteilwird. Wir dürfen ausserdem mit einem nennenswerten Betrag nachhause gehen, den wir in unser Projekt investieren dürfen. Bis jetzt wurde die sozialpädagogische und schulische Nachbetreuung über den regulären Pensenpool unserer Schule finanziert. Das soll auch weiterhin so bleiben.

Oft haben Ehemalige aber auch Schulkameradinnen und -kameraden mitgebracht, die ebenfalls Unterstützung bei der Berufslehre suchten. Oder Familienmitglieder sind mit Anliegen an uns herangetreten. Wir stellen fest, dass es ein Bedürfnis für dieses Angebot gibt, das über die Gruppe unserer Ehemaligen hinausgeht. Die Preissumme möchten wir zur Weiterentwicklung und Ausdehnung unseres Projektes nutzen. Zunächst möchten wir uns in Sachen Wirksamkeit, deren Planung und Messung beraten lassen. Wir möchten ausserdem unser Modell anderen Schulen zugänglich machen und uns stärker vernetzen mit anderen Leuten, die gute Projekte am Laufen haben. Und drittens sind uns diese Ressourcen willkommen, wenn es darum geht, unsere Infrastruktur auszubauen und auch für weitere Kreise eine Adresse und ein Kompetenzzentrum für die Nachschulische Betreuung von Lernenden zu werden, die unser ‘Know-how’ nutzen möchten.

So sind wir drei Ostschweizer also nach Bern gekommen. Ich hoffe, ich konnte schemenhaft umreissen, wie es dazu gekommen ist. Natürlich stehen wir Ihnen für Ihre Fragen nun noch eine Weile zur Verfügung. Sprechen Sie uns einfach an – wir freuen uns, Ihnen mehr zu erzählen. Und damit sie das auch können, beende ich hiermit meinen Vortrag.

Ich bedanke mich für Ihr Interesse, bei der Jury und den Mitgliedern aller vorberatenden Gremien für die wohlwollende Begutachtung unseres Projekts, beim LCH dafür, dass er diesen Preis geschaffen und hier für eine so würdige Preisverleihung gesorgt hat, bei meiner langjährigen Kollegin Frau Diethelm für ihren grossen und unverzagten Einsatz und die grosse Loyalität, die sie unserem Lernhaus stets erweist. Frau Kappich danke ich herzlich für die Ehre, uns hierher begleitet zu haben – Sie vertritt ja die Hauptpersonen, ohne sie gäbe es unser Projekt nicht und wir stünden heute nicht in Bern. Sie sind die Extrameile mit uns gegangen und machen uns sehr stolz.