Laudatio zum Siegerprojekt (Lernhaus «tipiti» Wil SG) von Jurymitglied Dagmar Voith
Die Grundsätze zur Beruflichen Orientierung der Sek 1 hören sich einfach genug an. So steht z. B. in einem Grundsatzpapier der FHNW:
- Primäres Ziel der beruflichen Orientierung an der Sek I Stufe ist der direkte Einstieg in die Berufsbildung oder Schulbildung Sek ll.
- Die Vernetzung und Zusammenarbeit der Institutionen gewährleistet die optimale Unterstützung sowie die Stärkung der Selbstverantwortung der Schülerinnen und Schüler im Berufswahlprozess und bei der Findung der Anschlusslösung.
- An jedem Sek l Standort resp. Schulträger gibt es mindestens eine Lehrperson, die in Bezug auf den Berufswahlprozess besonders qualifiziert ist.
- Es ist gewährleistet, dass Jugendliche mit Risikofaktoren nach Bedarf individuell begleitet werden, bis sie eine Anschlusslösung erlangen.
- Jede Schülerin, jeder Schüler hat eine entsprechende schulische oder berufliche Anschlusslösung.
Was hier besonders auffällt, ist nicht einmal so sehr die Tatsache, dass wir in aller Regel von Durchschnittsschülerinnen und -schülern ausgehen, die mehr oder weniger über einen Kamm geschert werden können (SuS mit Risikofaktoren – was auch immer darunter verstanden wird – werden explizit als Spezialgruppe erwähnt), sondern vielmehr die Tatsache, dass als einziges Ziel der beruflichen Orientierung eine «Anschlusslösung» definiert wird, die Aufgaben der beruflichen Orientierung danach als abgeschlossen betrachtet werden. Ganz wie im Märchen, wo wir auch nicht über das Happy End hinausschauen wollen … wer will sich schon ein Happy End vermiesen lassen.
Unsere Hauptpreisträger jedoch nehmen nicht nur jeden Schritt der individuellen Begleitung bei der beruflichen Orientierung sehr ernst, sie begnügen sich auch nicht mit dem Happy End. Sie wollen sicherstellen, dass der Weg ihrer Lernenden auch nach dem Beginn einer beruflichen Grundbildung (eben der Anschlusslösung) weitergeht, auch wenn sich vor ihnen Hürden aufbauen sollten, die so sicher kommen wie das Happy End in Märchen.
«Das Angebot der nachschulischen Betreuung mit dem Ziel der Unterstützung im Berufswahlprozess bis zum Abschluss der beruflichen Grundbildung ist hervorragend. Es leistet nachweislich einen wichtigen Beitrag zur Chancengleichheit.»
Jury Richard-Beglinger-Preis
Was die Jury besonders überzeugt hat bei diesem ausgezeichneten (in jedem Sinn verstanden) Projekt, ist dieser ganzheitliche und nachhaltige Gedanke, dass Jugendliche nicht nur individuelle Begleitung benötigen auf ihrem Weg ins Berufsleben sondern oft auch dann noch zusätzliche Unterstützung brauchen, wenn sie bereits in der beruflichen Welt angekommen sind. Dies gilt für Schüler von «Besonderschulen» ganz besonders, aber sicherlich auch für ganz viele andere.
Die Jury begründet ihre Wahl des diesjährigen Hauptpreises des Richard Beglinger Preises unter anderem so: «Das Angebot der nachschulischen Betreuung mit dem Ziel der Unterstützung im Berufswahlprozess bis zum Abschluss der beruflichen Grundbildung ist hervorragend. Es leistet nachweislich einen wichtigen Beitrag zur Chancengleichheit.»
«Eine Re-Inklusion in die Gesellschaft ist auch in separativen Schulsystemen über die Berufsbildung möglich. Umwege und Sackgassen verunsichern die Jugendlichen und ihr Umfeld. Ein tragfähiges Netzwerk von Bezugspersonen bietet Orientierung und Unterstützung.»
Projektziel des Tipiti Lernhauses Wil
Ihr Projektziel hat das Tipiti Lernhaus Wil bei der Eingabe folgendermassen beschrieben: «Eine Re-Inklusion in die Gesellschaft ist auch in separativen Schulsystemen über die Berufsbildung möglich. Umwege und Sackgassen verunsichern die Jugendlichen und ihr Umfeld. Ein tragfähiges Netzwerk von Bezugspersonen bietet Orientierung und Unterstützung. Die wichtigste Ressource dabei ist die vertrauensvolle Beziehung, welche in der Schulzeit entwickelt wurde und über die Zeit der beruflichen Erstausbildung bis zum Lehrabschluss Bestand hat.»
Ein solches Unterstützungssystem ist nicht nur für die besonderen Jugendlichen und ihre Familien Gold wert, auch Betriebe können so unterstützt werden. Für Betriebe sind Auszubildende meist nicht in erster Linie eine Arbeitskraft, die erleichternd wirkt, sondern, besonders zu Beginn der Ausbildungszeit, auch mit grossem Aufwand verbunden. Auszubildende, die noch besondere Bedürfnisse mitbringen, können dann häufig die Waage zum Kippen bringen, ob ein Ausbildungsplatz angeboten wird oder nicht, da sich Betriebe solche Betreuung entweder nicht zutrauen oder den Aufwand scheuen. Wenn dann eine Schule ein Angebot macht und bei der Betreuung der Jugendlichen über die gesamte Ausbildungszeit hinweg aktive Begleitung in die Waagschale wirft, können Ausbildungsplätze gewonnen werden, die sonst fehlen würden. In einem solchen System gibt es nur Siegerinnen und Gewinner.
Ich habe ein solches Angebot in meiner Zeit als Rektorin der Brückenangebote Basel-Stadt auch gekannt, wo wir etwas ähnliches angeboten haben. Und ich weiss aus eigener Erfahrung, wie gut so ein Nachbetreuungsangebot nicht nur bei Jugendlichen angekommen ist, die gern an den Ort zurückkommen, an dem sie sich wohl und unterstützt gefühlt hatten, sondern ganz stark auch bei Ausbildungsbetrieben. Die Erfolgszahlen von Tipiti sprechen diesbezüglich eine klare und eindrückliche Sprache.
Wenn ein Angebot erfolgreich ist, spricht sich das natürlich herum. Wenn Tipiti nun durch den Richard Beglinger Preis ihr Angebot ausweiten kann, so dass nicht nur Jugendliche aus der von uns prämierten Schule, sondern auch welche aus dem weiteren Umfeld in den Genuss dieses hervorragenden Angebotes kommen können, wäre dies nicht nur höchst erfreulich, es wäre ganz bestimmt auch im Sinne des Namensgebers dieses Preises.
Wir gratulieren dem Tipiti Lernhaus Wil von ganzem Herzen zum Gewinn des diesjährigen Richard Beglinger Hauptpreises! (Dagmar Voith)