Hauptpreis Richard-Beglinger-Preis 2023

Laudatio zum Sieger­projekt (Lernhaus «tipiti» Wil SG) von Jurymitglied Dagmar Voith

Jurymitglied Dagmar Voith hält die Laudatio für das Siegerprojekt.

Die Grundsätze zur Beruf­lichen Ori­en­tierung der Sek 1 hören sich ein­fach genug an. So steht z. B. in einem Grund­satz­papier der FHNW:

  1. Primäres Ziel der beruflichen Orientierung an der Sek I Stufe ist der direkte Ein­stieg in die Berufs­bildung oder Schul­bildung Sek ll.
  2. Die Ver­netz­ung und Zusammen­­arbeit der Institutionen gewähr­­leistet die opti­male Unter­­stützung sowie die Stär­kung der Selbst­­verantwortung der Schülerinnen und Schüler im Berufswahl­prozess und bei der Findung der Anschluss­­lösung.
  3. An jedem Sek l Standort resp. Schul­träger gibt es mindestens eine Lehr­person, die in Bezug auf den Berufswahl­prozess besonders qualifiziert ist.
  4. Es ist gewähr­leistet, dass Jugend­liche mit Risiko­­faktoren nach Bedarf individuell begleitet werden, bis sie eine Anschluss­­lösung erlangen.
  5. Jede Schülerin, jeder Schüler hat eine ent­sprechende schul­ische oder beruf­liche Anschluss­­lösung.

Was hier besonders auf­fällt, ist nicht einmal so sehr die Tat­sache, dass wir in aller Regel von Durchschnitts­­schülerinnen und -schülern ausgehen, die mehr oder weniger über einen Kamm geschert werden können (SuS mit Risiko­­faktoren – was auch immer darunter ver­standen wird – werden explizit als Spezialgruppe erwähnt), sondern vielmehr die Tat­sache, dass als einziges Ziel der beruf­lichen Or­ien­tierung eine «Anschluss­lösung» definiert wird, die Auf­gaben der beruf­lichen Or­ien­tierung danach als ab­ge­schlossen betrachtet werden. Ganz wie im Märchen, wo wir auch nicht über das Happy End hinausschauen wollen … wer will sich schon ein Happy End vermiesen lassen.

Unsere Haupt­­preis­träger jedoch nehmen nicht nur jeden Schritt der indi­viduellen Be­­gleitung bei der beruf­lichen Or­ien­tierung sehr ernst, sie be­gnügen sich auch nicht mit dem Happy End. Sie wollen sicher­­stellen, dass der Weg ihrer Lernenden auch nach dem Beginn einer beruflichen Grund­­bildung (eben der Anschluss­lösung) weiter­­geht, auch wenn sich vor ihnen Hür­den aufbauen sollten, die so sicher kommen wie das Happy End in Märchen.

«Das An­gebot der nach­schulischen Be­treuung mit dem Ziel der Unter­stützung im Berufswahl­­prozess bis zum Ab­schluss der beruf­lichen Grund­bildung ist hervor­ragend. Es leis­tet nach­weis­lich einen wich­tigen Bei­trag zur Chancen­­gleich­heit.»

Jury Richard-Beglinger-Preis

Was die Jury besonders über­zeugt hat bei diesem aus­gezeichneten (in jedem Sinn verstanden) Projekt, ist dieser ganz­­heitliche und nach­­haltige Ge­danke, dass Jugend­­liche nicht nur indi­vidu­elle Be­g­leitung benötigen auf ihrem Weg ins Berufs­leben sondern oft auch dann noch zu­sätzliche Unter­­stützung brauchen, wenn sie bereits in der beruf­­lichen Welt ange­kommen sind. Dies gilt für Schüler von «Besonder­schulen» ganz besonders, aber sicher­lich auch für ganz viele andere.

Die Jury be­gründet ihre Wahl des dies­jährigen Haupt­­preises des Richard Beglinger Preises unter anderem so: «Das Angebot der nach­­schulischen Betreu­ung mit dem Ziel der Unter­­stützung im Berufs­wahl­­prozess bis zum Ab­schluss der beruf­lichen Grund­­bildung ist hervor­ragend. Es leistet nach­weislich einen wichtigen Bei­trag zur Chancen­­gleichheit.»

«Eine Re-Inklusion in die Gesell­schaft ist auch in separativen Schul­systemen über die Berufs­bildung möglich. Umwege und Sack­gassen verunsichern die Jugend­lichen und ihr Um­feld. Ein trag­fähiges Netz­werk von Bezugs­personen bietet Orientierung und Unter­stützung.»

Projektziel des Tipiti Lernhauses Wil

Ihr Projektziel hat das Tipiti Lernhaus Wil bei der Eingabe folgendermassen beschrieben: «Eine Re-Inklusion in die Gesell­schaft ist auch in separativen Schul­systemen über die Berufs­bildung möglich. Um­wege und Sack­gassen verunsichern die Jugend­lichen und ihr Um­feld. Ein trag­fähiges Netzwerk von Bezugs­personen bietet Orientierung und Unter­stützung. Die wichtigste Ressource dabei ist die vertrauens­volle Beziehung, welche in der Schul­zeit entwickelt wurde und über die Zeit der beruflichen Erst­ausbildung bis zum Lehr­abschluss Bestand hat.»

Ein solches Unterstützungs­system ist nicht nur für die besonderen Jugend­lichen und ihre Familien Gold wert, auch Betriebe können so unter­stützt werden. Für Be­triebe sind Aus­zu­bildende meist nicht in erster Linie eine Arbeits­kraft, die er­leichternd wirkt, sondern, besonders zu Beginn der Ausbildungs­zeit, auch mit grossem Aufwand verbunden. Auszubildende, die noch besondere Bedürfnisse mitbringen, können dann häufig die Waage zum Kippen bringen, ob ein Ausbildungs­platz angeboten wird oder nicht, da sich Betriebe solche Betreuung entweder nicht zutrauen oder den Aufwand scheuen. Wenn dann eine Schule ein Angebot macht und bei der Betreuung der Jugend­lichen über die gesamte Ausbildungs­zeit hinweg aktive Begleitung in die Waag­schale wirft, können Ausbildungs­plätze gewonnen werden, die sonst fehlen würden. In einem solchen System gibt es nur Siegerinnen und Gewinner.

Ich habe ein solches Angebot in meiner Zeit als Rektorin der Brücken­angebote Basel-Stadt auch gekannt, wo wir etwas ähnliches angeboten haben. Und ich weiss aus eigener Erfahrung, wie gut so ein Nachbetreuungs­angebot nicht nur bei Jugend­lichen angekommen ist, die gern an den Ort zurückkommen, an dem sie sich wohl und unterstützt gefühlt hatten, sondern ganz stark auch bei Ausbildungs­betrieben. Die Erfolgs­zahlen von Tipiti sprechen diesbezüglich eine klare und eindrückliche Sprache.

Wenn ein Angebot erfolgreich ist, spricht sich das natürlich herum. Wenn Tipiti nun durch den Richard Beglinger Preis ihr Angebot ausweiten kann, so dass nicht nur Jugend­liche aus der von uns prämierten Schule, sondern auch welche aus dem weiteren Um­feld in den Genuss dieses hervor­ragenden Angebotes kommen können, wäre dies nicht nur höchst erfreulich, es wäre ganz bestimmt auch im Sinne des Namens­gebers dieses Preises.

Jurymitglied Dagmar Voith gratuliert dem Schulleiter Stephan Herzer des Lernhauses „tipiti“
in Wil SG zum Gewinn des Hauptpreises 2023.

Wir gratulieren dem Tipiti Lernhaus Wil von ganzem Herzen zum Gewinn des dies­jährigen Richard Beglinger Haupt­preises! (Dagmar Voith)