Eine Schule begleitet Jugend­liche bis zum Lehrabschluss

Porträt Lernhaus «tipiti», Wil SG, Sieger­pro­jekt Richard-Beglinger Hauptpreis 2023

Text: Claudia Baumberger & Marcello Weber, Fotos: Tamara Diethelm

Nach dem letzten Schultag lassen die meisten Abgängerinnen und Abgänger ihre Schule für immer hinter sich. Nicht so im Lernhaus «tipiti» in Wil SG: Die Lehrpersonen begleiten manche von ihnen bis zum Abschluss ihrer Lehre weiter …

Sozialpädagogin Damaris Diethelm unterstützt Oberstufenschüler Jonas bei der Lehrstellensuche

Jonas hat schon zwei Zusagen für eine Lehrstelle erhalten. Nun hat er die Qual der Wahl. «Du kannst stolz auf dich selbst sein!», sagt die Sozialpädagogin Damaris Diethelm und zwinkert dem Oberstufenschüler Jonas zu. Sie sitzen gemeinsam im Beratungszimmer des Lernhaus «tipiti» in Wil SG. Eben hat Jonas per Telefon die Zusage für eine Lehrstelle als Zimmermann erhalten. Das Telefongespräch hat er zusammen mit Diethelm vorbereitet. Jonas schreibt seinen Eltern sofort eine WhatsApp-Nachricht.

«Lass es mal setzen und sprich heute Abend mit deinen Eltern darüber»

Damaris Diethelm, Sozialpädagogin

Am Abend will der Vater den Erfolg mit einem Kuchen feiern – bereits zum zweiten Mal, denn vor wenigen Tagen hat Jonas schon eine Zusage erhalten. Nun hat er die Qual der Wahl: Soll er sich für den grösseren, professionelleren Betrieb mit einem umständlichen Arbeitsweg oder für den Kleinbetrieb in der Nähe seines Wohnortes entscheiden? «Lass es mal setzen und sprich heute Abend mit deinen Eltern darüber», rät ihm Diethelm.

Gewinner des Richard-Beglinger-Preises

Jonas geht noch in die Oberstufenschule im Lernhaus. Diese Tages-Sonderschule richtet sich an Jugendliche mit besonderen Bedürfnissen. Sie legt grossen Wert auf die Berufswahl und den Einstieg in die Berufswelt. Für ihr Engagement hat die Schule im November 2023 den Richard-Beglinger-Preis gewonnen.

Der Schulalltag in Wil ist stark ritualisiert. Um 8 Uhr treffen die Jugendlichen ein – manche frühstücken in der Schule. Um 8.20 Uhr müssen alle in der Startrunde teilnehmen. Dort legen die Jugendlichen und die Fachpersonen gemeinsam fest, wer in den kommenden vier Lektionen von welcher Lehrperson unterrichtet wird und wer beim Kochen hilft. Nach dem Unterricht und dem gemeinsamen Mittagessen folgen am Nachmittag die thematischen Gruppenarbeiten. Um 16.15 Uhr treffen sich wieder alle für die Schlussrunde. Die Jugendlichen erhalten für jede Lektion eine Rückmeldung zu ihrem Verhalten und ihrer Leistung. Um 17 Uhr ist Schulschluss.

Wer will, kann weiterhin zum Mittagessen ins Lernhaus kommen

Vor dem Mittagessen besucht Sozialpädagogin Diethelm in einer nahegelegenen Kleintierpraxis die ehemalige Oberstufenschülerin Jessica. Solche Besuche sind Teil der nach­ schulischen Begleitung. Jessica absolviert ein einjähriges Praktikum als tiermedizinische Praxisassistentin. Seit drei Monaten arbeitet sie nun schon in der Praxis, sorgt für Sauberkeit im Behandlungsraum und assistiert bei Behandlungen und Operationen.

«Es macht Freude, wenn ein Patient zur Kontrolle kommt und es ihm wieder besser geht»

Jessica, Absolventin einse Praktikums als tiermedizinische Praxisassistentin
Jessica bei ihrer täglichen Arbeit in der Tierarztpraxis

«Es macht Freude, wenn ein Patient zur Kontrolle kommt und es ihm wieder besser geht», schwärmt Jessica. Doch gibt es auch belastende Situationen, und bei Operationen wird ihr ab und zu schwindlig. Dann darf sie jeweils rausgehen. «Kommt das oft vor?», fragt Diethelm. «Nein, eigentlich nicht mehr, seitdem ich jeden Morgen frühstücke, wie du mir geraten hast», antwortet Jessica. Dass auch der Tod eine Realität in der Tierpraxis ist, musste sie bereits in der ersten Arbeitswoche erfahren. Über die Gefühle, die das in ihr auslöste, konnte Jessica mit Diethelm reden. 

Dank Berufsbildung Anschluss finden, Unterstützung der Lernenden auch nach Schulabschluss.

Die ehemalige Oberstufenschülerin Jessica absolviert ein Praktikum als tiermedizinische Praxisassistentin. Es ist zwölf Uhr. Jessica zieht sich um und geht anschliessend zusammen mit Diethelm ins Lernhaus «tipiti» zum Mittagessen. Auch dies gehört zur nachschulischen Begleitung: Wer will, kann weiterhin zum Mittagessen ins tipiti kommen. Das gewohnte Umfeld gibt Sicherheit und Geborgenheit.

Lernende haben auch im Arbeitsalltag weiterhin mit ihren BetreuerInnen Kontakt

Die 21 Jugendlichen, welche die «tipiti» Oberstufe besuchen, wurden vom schulpsychologischen Dienst zugewiesen, weil sie im Verhalten oder beim Lernen auffällig sind. «Eine Wiedereingliederung in die Gesellschaft ist über die Berufsbildung möglich», ist der Schulleiter und Heilpädagoge Stephan Herzer überzeugt.

«Eine Wiedereingliederung in die Gesellschaft ist über die Berufsbildung möglich»

Stephan Herzer, Schulleiter und Heilpädagoge

Die Schule unterrichtet nachdem Lehrplan des Kantons St. Gallen und richtet sich fächerübergreifend stark auf die Berufswahl und den Ein­ stieg in die Berufswelt aus. Wichtige Lernziele sind Verantwortung, Zuverlässigkeit, Selbstsicherheit und Fairness. Nach der obligatorischen Schulzeit werden die Jugendlichen weiterhin niederschwellig und kostenlos von ihnen bereits bekannten Fachpersonen unterstützt. Die Leistungen der Schule inklusive der Nachbetreuung werden voll­ umfänglich vom regulären Pensenpool für Sonderschulen gedeckt.

Stephan Herzer, Schulleiter vom Lernhaus «tipiti»

Der Schulleiter vom Lernhaus «tipiti», Stephan Herzer, ist sich sicher, dass Berufsbildung wichtig ist für die Schülerinnen und Schüler, sowie für die Gesellschaft. Und Ruth Sprecher, die Präsidentin der Fachkommission Berufliche Orientierung des Dachverbands Lehrerinnen und Lehrer Schweiz LCH und Mitglied der Jury des Richard-Beglinger-Preises ist überzeugt: «Die koordinierte Zusammenarbeit aller Beteiligten von der Oberstufe bis zum Abschluss der Berufsausbildung zeichnet dieses Projekt besonders aus».

Ruth Sprecher zu Besuch im Lernhaus «tipiti» lässt sich von einem Lernenden erklären, womit sich dieser gerade beschäftigt.

«Die koordinierte Zusammenarbeit aller Beteiligten von der Oberstufe bis zum Abschluss der Berufsausbildung zeichnet dieses Projekt besonders aus».

Ruth Sprecher, Präsidentin der Fachkommission Berufliche Orientierung des Dachverbands Lehrerinnen und Lehrer Schweiz LCH und Mitglied der Jury des Richard-Beglinger-Preises

Schulische und sozialpädagogische Unter­stützung

Die Nachbetreuung für ehemalige Schülerinnen und Schüler wie Jessica während der Berufsbildung ist optional. Die tipiti Oberstufe bietet eine schulische und eine sozialpä dagogische Begleitung an. Zum schulischen Teil gehört die Aufgabenhilfe an zwei Abenden pro Woche. Angeboten werden sie von Heilpädagoginnen und Heilpädagogen. Zur sozialpädagogischen Betreuung gehört der Besuch einer Sozialpädagogin oder eines Sozialpädagogen am Arbeitsplatz im ersten Quartal nach dem Schulabgang. Weitere Unterstützung ist bei Bedarf während der ganzen Berufsausbildung möglich.

Genau diese langjährige Betreuung durch dieselben Personen erachtet auch Ruth Sprecher, Präsidentin der der Fachkommission Berufliche Orientierung des LCH und Mitglied der Jury des Richard-Beglinger-Preises, als besonders wertvoll. «Die koordinierte Zusammenarbeit aller Beteiligten (Jugendliche, Eltern, Schule, Lehrbetriebe und weitere Bezugs- und Betreuungspersonen) von der Oberstufe bis zum Abschluss der Berufsausbildung zeichnet dieses Projekt besonders aus», sagt sie.

Seit 2007 haben 97 Jugendliche ihre Schulzeit an der «tipiti» Oberstufe beendet. 85 Prozent davon haben einen eidgenössischen Berufsabschluss geschafft oder sind noch in der Ausbildung dazu. Für die restlichen wurden andere Anschlusslösungen gefunden. 25 Prozent der Jugendlichen nahmen die schulische und 45 Prozent die sozialpädagogische Nachbetreuung in Anspruch. Diese Nachbetreuungen erlauben den Schülerinnen und Schülern auch im Arbeitsalltag Kontakt zu den Betreuungspersonen, die ihnen aus der Schulzeit vertraut sind.

Neuntklässlerin Vian bei ihrem Schnupperpraktikum in der Migros

Im Alltag von Schulsozialpädagogin Diethelm ist unterdessen Nachmittag. Sie reist nach St. Gallen, um Neuntklässlerin Vian bei ihrem Schnupperpraktikum in der Migros zu besuchen. Vian füllt gerade die Getränkeflaschen nach, ist aber etwas aufgewühlt, weil sie sich über eine Freundin aufregt. Zum Glück schaut Diethelm vorbei. Es gelingt ihr, Vian etwas zu beruhigen.

Schulsozialpädagogin Diethelm besucht Vian bei ihrem Schnupperpraktikum

Der Richard-Beglinger-Preis

Der Richard-Beglinger-Preis prämiert alle zwei Jahre innovative Projekte, welche die berufliche Orientierung und Berufsfindung von Jugendlichen unterstützen. Das Preisgeld beträgt insgesamt 10’000 Franken. Der Preis wurde von der Fachkommission Berufliche Orientierung des LCH lanciert. (Im Netz: www.richardbeglingerpreis.ch)

Am 22. November 2023 fand in Bern im Rahmen der Swissdidac zum zweiten Mal eine Preisverleihung statt. Hauptgewinner wurde die Oberstufe des Lernhaus «tipiti» in Wil SG. Die Tages-Sonderschule unterrichtet auf dem Niveau der Sekundar- und Realstufe sowie der Kleinklasse. Hinter der Schule steht der Verein tipiti, der unterschiedliche Förder- und Wohnangebote für Kinder und Jugendliche mit besonderen Bedürfnissen anbietet. Mit dem Preisgeld von 8’000 Franken will der Verein die nachschulische Betreuung für Jugendliche öffnen, die nicht ihre Schule besuchten. (Im Netz: www.tipiti.ch/oberstufenschule-wil)

Der mit 2000 Franken dottierte Richard-Beglinger-Anerkennungspreis ging an das Projekt «Klassengastro – Schulklasse meets Restaurant». In diesem Projekt bekochen und bewirten Jugendliche in einem Restaurant ihre Eltern und lernen so die Gastroberufe kennen. (Im Netz: www.gastrobern.ch/infos)